C. Arni u.a. (Hg.): Protest! Protestez!

Cover
Titel
Protest! Protestez!.


Herausgeber
Arni, Caroline; Gardey, Delphine; Guzzi-Heeb, Sandro
Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Annuaire suisse d’histoire économique et sociale (35)
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
von
Rolf Graber

Die HerausgeberInnen des Sammelbandes «Protest! Protestez!», der einen Einblick in aktuelle Forschungsarbeiten an schweizerischen Universitäten vermittelt, beginnen ihre Einleitung mit dem Satz «Überall ist Protest», und verweisen auf nationale und internationale Bewegungen unterschiedlicher Couleur. Diese Häufung von Protestereignissen hat jedoch in der schweizerischen Geschichtsforschung zu keiner Thematisierungskonjunktur geführt, Protestforschung steht nicht zuoberst auf der Forschungsagenda. Zwar trugen die historischen Jubiläen (Reformation 1517, Landesstreik 1918, Studentenbewegung 1968) zu einem vermehrten Interesse an Protestereignissen bei, in der universitären Lehre war das Thema aber weiterhin wenig präsent. Umso wertvoller sind die Impulse durch das vorliegende Buch. Es enthält zehn Aufsätze, die unter die vier Themenbereiche Geschichte / Erinnerung, Subjekte des Protests, Bäuerlicher Protest, Mobilisierung zum Protest gruppiert werden. Der einleitende Beitrag von Andreas Würgler stellt die frühneuzeitlichen Unruhen in der alten Eidgenossenschaft ins Spannungsfeld von Revolution und Partizipation. An drei Beispielen (Reformation 1525, Bauernkrieg 1653 und Helvetische Revolution 1798) untersucht er, ob wirklich eine revolutionäre Situation vorhanden war. Eine Kontrastfolie bilden die zahlreichen Unruhen, bei denen es nicht um eine Systemänderung ging, sondern um die Partizipation an der Macht oder um die Verteidigung von alten Freiheiten und Privilegien. Ausgehend von diesen Überlegungen zeigt Würgler die ambivalente Bedeutung der Helvetik für die Ausgestaltung des politischen Systems der modernen Schweiz. Zu Recht verweist er auf zwei helvetische Revolutionen: Eine in der Endphase der alten Eidgenossenschaft stark an lokalen Selbstverwaltungstraditionen und vormodernen Partizipationsmodellen orientierte und eine moderne, zentralistisch-repräsentativstaatliche mit der Einführung der helvetischen Verfassung am 12. April 1798. Dieses doppelte Erbe bestimmt die spezifische Entwicklung zur halbdirekten Demokratie. Um dies zu konkretisieren wäre eine kurze Würdigung der Protestbewegungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wünschenswert gewesen, zumal die Ereignisse im politischen Vorfrühling 1798 im kollektiven Bewusstsein eine wichtige Rolle spielen.

Mit zeitlich weiter zurückliegenden Protestbewegungen befassen sich noch zwei Aufsätze. Sandro Liniger stellt das Rebellionsritual des «Fähnlilupfs» im frühneuzeitlichen Graubünden in einen neuen Kontext. In einem innovativen Zugriff zeigt er, wie diese Strafgerichte einen Funktionswandel erfahren. Dienten sie ursprünglich dem Abbau politischer Spannungen zwischen Privilegierten und minder Privilegierten, wurden sie während des Dreissigjährigen Krieges zu einem Mittel zur Vernichtung des Feindes. Verantwortlich für diesen Bedeutungswandel war eine Neuinterpretation durch reformierte Prediger. Das Beispiel zeigt, dass Proteste durch mediale Aufarbeitung ihren Charakter verändern können. Einen Einfluss von Protestnarrativen auf spätere Ereignisse zeigt auch der Beitrag von Séverin Duc. Die traumatischen Erfahrungen im gewaltsamen Aufstand der Sizilianer gegen die Unterwerfung durch Karl von Anjou im Jahr 1282 begründeten eine Erinnerungskultur, die auch das Verhalten der Akteure in späteren Auseinandersetzungen prägte. Die weiteren Aufsätze konzentrieren sich auf Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts.

Die methodisch originellsten Beiträge finden sich unter der Überschrift «Subjekte des Protests». Sie eröffnen neue Perspektiven, weil sie von subjektiven Erfahrungen ausgehen und diese in einem globalen Kontext verorten. Ausgehend von einem Protestlied indischer Frauen, das provokativ die Pille und Spirale für den Mann fordert, zeigt Anja Suter, wie diese Erfahrungen zu geteilten Erfahrungen werden. Indem der Text seinen Weg in eine Berner Bibliothek fand, löste er innerhalb der Frauengesundheitsbewegung Diskussionen über die neokoloniale Dimension der Bevölkerungspolitik und über eine Familienplanung zu Lasten der Frauen und deren Gesundheit aus. Um die Problematisierung eurozentristischer Perspektiven geht es auch im Beitrag von Milo Probst. Er konfrontiert den während der europäischen Industrialisierung entstandenen Klassenbegriff mit der Darstellung rebellischer Subjekte in der anarchistischen Literatur Argentiniens am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Bild einer «heterogenen Arbeiterklasse» das er entwirft, zeigt nicht nur die Historizität des traditionellen Klassenbegriffs auf, sondern trägt auch zur Problematisierung des eurozentrischen Modernisierungsnarratives bei. Seine Forderung nach der Heterogenität rebellischer Subjekte zu fahnden, ist für die Erforschung aktueller sozialer Bewegungen besonders relevant. Einen neuen Blick auf das in westlichen Industrieländern entstandene Sozialstaatsmodell eröffnet der Aufsatz von Anina Zahn über die Proteste von Erwerbslosen in der Schweiz. Diese organisierten sich in Arbeitslosenkomitees, die zugleich Selbsthilfeorganisationen und Protestforen waren. Sie wehrten sich gegen Bevormundung und Stigmatisierung. In diesen Widerständen wurde den Protestierenden die repressive Seite des Sozialstaates bewusst. Dieser brachte nicht nur soziale Sicherheit, sondern auch soziale Kontrolle. Darauf reagierten die Betroffenen mit der Gründung von Beratungsstellen, die von den Arbeitsämtern allmählich geduldet und gefördert wurden. Dadurch entstand eine Interaktion zwischen den Protestierenden und den staatlichen Institutionen, die längerfristig zu Reformen der Stempelpraxis und mehr Selbstbestimmung für die Arbeitssuchenden führte.

Zwei weitere Aufsätze befassen sich mit bäuerlichen Protesten. Peter Moser zeigt an irischen und schweizerischen Beispielen, dass das von den Sozialwissenschaften entwickelte, methodisch-theoretische Instrumentarium ungeeignet ist, die bäuerlichen Proteste adäquat zu beschreiben. Zudem führe dieses Defizit zu einer historiographischen Vernachlässigung bäuerlich-agrarischer Proteste in Industriegesellschaften. Er plädiert deshalb dafür, «Begriffe und Theorien zu entwickeln, welche die distinkte sozioökonomische, kulturelle und politische Lage bäuerlicher Bevölkerungsteile im Prozess der Industrialisierung zu erfassen vermögen.» (S. 185). Anschlussfähig an diese Überlegungen ist der Beitrag von Guillaume Savoy zu den Bauerndemonstrationen von 1954, 1961 und 1973 in der Bundeshauptstadt. Diese lösten durch ihre Heftigkeit erhebliche Irritationen in der nichtbäuerlichen Öffentlichkeit aus, zumal sie nicht dem Bild der Bauern als staatstragende Schicht entsprachen und mit der zum nationalen Mythenbestand gehörenden Bauernstaatsideologie kollidierten.

Die letzten zwei Aufsätze befassen sich mit Formierungspraktiken und Mobilisierungsstrategien. Renata Latala zeigt, wie sich aus den Streiks gegen die zunehmende Russifizierung der höheren Schulen Warschaus 1905 eine polnische Jugendbewegung entwickelt, die dem zivilgesellschaftlichen Protest gegen das Zarenreich eine generationelle Identität verleiht. Dieser Widerstand lässt sich nicht einfach in nationalistische Deutungsmuster einordnen. Um Identitätsbildung einer politischen Bewegung geht es auch im Beitrag von Andrea Schweizer zur schweizerischen Friedensbewegung. Im Zentrum steht die Frage, wie sich aus den disparaten Gruppierungen eine ernstzunehmende Opposition entwickelte, die 1981 anlässlich einer nationalen Demonstration 30’000 bis 40’000 TeilnehmerInnen gegen den NATO-Doppelbeschluss mobilisieren konnte. Die Gründe für diesen Erfolg wie etwa die alternative Besetzung von Themen, die strategische Neuausrichtung, die Einbindung heterogener Gruppen und der professionellere Umgang mit den Medien, werden anhand einer Analyse des überlieferten Quellenmaterials herausgearbeitet.

Insgesamt bietet der Sammelband durch die inhaltliche und methodische Vielfalt der Beiträge einen anregenden Einstieg ins Thema und es ist zu hoffen, dass die Lektüre zu weiteren Forschungen ermuntert.

Zitierweise:
Graber, Rolf: Rezension zu: Arni, Caroline; Gardey, Delphine; Guzzi-Heeb, Sandro (Hg.); Protest! Protestez!, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 504-506. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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